Es war einmal vor sehr langer Zeit eine Mutter und ihr Sohn. Sie liebte ihn über alles, er war ihr größter Schatz. Doch der Junge hatte von Geburt an nur einen Arm. Die Mutter fürchtete, dass jemand dies herausfinden könnte und versteckte sich daher mit ihm im Wald.
Eines Tages, als die Mutter in das benachbarte Dorf ging, um das Nötigste an Lebensmitteln zu kaufen, lief ihr der kleine Junge hinterher. Erschrocken von den großen Menschenmengen im Dorf begann der Junge zu weinen, wodurch die Dorfbewohner auf ihn aufmerksam wurden.
Schnell packte die Mutter ihren Sohn und rannte zurück in den Wald, während die Dorfbewohner hinter ihr herriefen: „Verbrennt die Hexe, die Ausgeburt des Teufels…Schickt sie zurück in die Hölle.“.
Als die Mutter eines Tages wieder in das Dorf musste, sagte sie zu dem Jungen: „Mein Sohn, hier werden wir niemals akzeptiert werden, keiner wird dich verstehen. Sollte ich nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein, pack deine sieben Sachen und lauf weg.“, so umarmte sie ihren Sohn, nahm ihren Mantel und ging.
Die Stunden vergingen, der Nachmittag zog vorbei und es wurde Abend und es wurde Nacht und die Mutter kam nicht zurück. So tat der Junge, wie es ihm geheißen wurde. Er packte seine Sachen und ging los.
Als er den Wald durchquert hatte, stand er vor einem hohen Berg und er beschloss diesen zu erklimmen. Auf der Bergkuppe angekommen, sah er zurück und sah das Tal, den Wald und das Dorf. Und von dem Marktplatz des Dorfes sah er eine große Rauchwolke und glühende Funken emporsteigen. Er glaubte sich einzubilden seine Mutter schreien zu hören.
Nach diesem Berg folgten weitere Berge, bis der einarmige Junge sich so tief in dem Gebirge verlaufen hatte, dass er glaubte nie wieder heraus zu finden.
Als er irgendwann hungernd und frierend am Wegrand saß, kam ein alter Mann vorbei.
Er trug abgewetzte schmutzige Kleidung, hatte einen langen Bart und tiefe Falten im Gesicht. Langsam humpelte er, sich dabei auf seinen Krückstock stützend, auf den Jungen zu, blieb vor ihm stehen und fragte ihn, was er denn hier draußen täte und woher er käme.
Der kleine Junge erzählte ihm, dass keiner ihn akzeptiere und seine Mutter tot sei, er niemanden habe und sich deshalb allein durchschlagen müsse. Daraufhin bot der Alte ihm an, mit ihm mitzukommen.
In seiner Hütte angekommen, legte sich der Junge in das Bett und war sofort eingeschlafen.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, saß der Alte bereits am gedeckten Tisch und neben ihm saß ein anderer Junge, welcher den Einarmigen mit leerem milchigen Blick ansah. Der alte Mann erklärte dem einarmigen Kleinen, dass der Andere blind sei und hier lebe, da er keine hätte und aus seiner Heimat verstoßen worden sei.
Der Alte bot dem Einarmigen an bei ihm wohnen zu dürfen, unter der Bedingung, dass er dem anderen helfe Spielpuppen zu fertigen, mit welchen der Alte als Puppenspieler sein Geld verdiene. Doch er dürfe niemals auch nur ein Wort mit dem blinden Jungen sprechen, sonst drohe ihm eine gewaltige Strafe, die er sein Lebtag nie wieder vergessen würde.
Der einarmige Junge willigte ein und nachdem sie gemeinsam gefrühstückt hatten, verließ der Alte die Hütte.
Den ganzen Tag über fertigten die beiden Jungen Puppen an, ohne ein einziges Wort miteinander zu wechseln, bis der alte Mann am Abend mit neuen Puppenteilen zurück kam.
So vergingen die Tage, Wochen, Monate und Jahre. Das Einzige, was dem einarmigen Jungen komisch vorkam war, dass der Alte niemals eine Puppe mitnahm wenn er das Haus verließ und trotzdem Abends mit einem vollen Beutel neuer Puppenteile zurückkam. Der Junge war fasziniert davon, wie echt jedes einzelne Auge und jeder einzelne Arm, jedes einzelne Bein wirkte.
Doch er wollte den Alten nicht darauf ansprechen, da dieser immer gut zu ihm war und ihn versorge.
So kam es, dass er und der Blinde vor der Hütte saßen, Puppen fertigten und er zu dem Blinden sprach: „Findest du auch, dass sich die Puppenteile so echt wirken? Fast als wären sie menschlich.“, doch der Blinde fragte nur: „Hast du hellblaue Augen gesehen?“. Plötzlich nahm er seine Augen aus, welche, wie der Einarmige feststellen musste, nur Glasaugen waren.
„Bitte“, sprach der Blinde eindringlich, fast schon verzweifelt, „hast du irgendwo hellblaue Augen gesehen? Blau wie der wolkenlose Sommerhimmel?“. In diesem Moment hörten sie die Schritte des Alten, wie er den Weg zur Hütte hoch stapfte und sie schwiegen augenblicklich.
Am Abend war der Alte seltsam verstimmt, er hatte sonst immer beste Laune, sang und lachte am Tisch, doch heute sprach er kaum ein Wort und schickte die Jungen früh in ihre Betten.
Mitten in der Nacht wurde der einarmige Junge von einem grausamen Schreien geweckt.
Ein Schreien als würde ein Mensch oder Tier, da war er sich nicht ganz sicher, qualvolle Todesschmerzen erleiden.
Am Morgen fragte er den Alten, was dass für Schreie gewesen waren, doch der Alte antwortete nur kurz angebunden, dass ein Rudel grauer Wölfe nachts vorbeigezogen sei und in der Nähe eine junge Gans gerissen habe.
Der Junge gab sich mit der Antwort zufrieden und so verließ der Alte, wie jeden Morgen, die Hütte.
Wieder saßen saßen die beiden Jungen vor der Hüttentür auf der Bank und arbeiteten an Puppen, da gemerkte der Junge, dass dem Blinden ein Fuß fehlte. Da der Alte erst vor ein paar Stunden gegangen war und es sicher noch lange bräuchte, bis er wiederkäme, fragte der Junge: „Was ist mit deinem Fuß geschehen? Warum hast du keinen mehr?“, der Blinde schüttelte erschrocken und ängstlich den Kopf und arbeitete eifrig an seiner Puppe weiter, fast so als würde sein Leben davon abhängen.
Als er bei erneutem Fragen immer gleich reagierte, beließ es der Junge dabei und arbeitete ebenfalls weiter. „Ich kann den Alten heute Abend fragen“, dachte er bei sich.
Der Alte kehrte bei Einbruch der Dunkelheit zurück, doch als der Junge ihn nach dem anderen fragte, wurde er zornig. So zornig hatte er ihn noch niemals erlebt. Der Alte schrie und fluchte und schäumte und spuckte vor Wut. Der Junge begriff wohl, dass er nicht hätte fragen sollen und verkroch sich verängstigt in sein Zimmer.
Des Nachts wurde er erneut von einem grässlichen Schreien geweckt, er glaubte zudem, die Stimme des Alten zu hören, war sich aber nicht sicher und schlief wieder ein.
Am nächsten Morgen traute er sich nicht den Alten danach zu fragen, doch am Tag bemerkte er, dass dem anderen Jungen nicht nur ein Fuß, sondern jetzt auch ein ganzes Bein fehlte. Er wollte ihn fragen, weshalb er sein Bein verloren habe, doch fürchtete er, dass es mit seiner Fragerei zusammenhängen könnte und schluckte daher all seine Fragen runter. Als der Alte abends zurück kam und sie alle gemeinsam beim Essen saßen, nahm der Junge eine Spannung zwischen dem Alten und dem Blinden wahr. Es war fast so, als habe der blinde Junge Angst, auch nur die geringst falsche Bewegung zu machen. Nach dem Abendbrot schickte der Alte die Jungen in ihre Betten und war dabei so freundlich, wie sonst auch.
Der einarmige Junge schlief, erschöpft von diesem anstrengenden Tag, schnell ein.
Mitten in der Nacht wachte er auf, weil sich seine Tür mit einem entsetzlichen Knarzen langsam öffnete, herein trat der alte Mann. In seiner Hand hatte er ein Messer, welches in Mondschein, der zum Fenster hereinfiel, aufblitzte.
Binnen von Sekunden wurde dem Jungen einiges klar:
Die Puppen waren aus Kinderteilen.
Alle.
Der Alte war kein Puppenspieler.
Sondern ein Mörder.
Ein Kinder verstümmelnder kaltblütiger Mörder.
Und er, der einarmige Junge, würde der Nächste sein.
Im Augenwinkel sah er, wie sich sein Fenster öffnete. Draußen stand der andere Junge, er hatte wieder zwei Beine und echte Augen, hellblaue Augen, wie der wolkenlose Sommerhimmel.
Erneut wurde dem Jungen einiges klar:
Der Alte hatte die Augen vom anderen gehabt.
Der andere wusste das.
Er wusste alles.
Er hatte seinen Fuß durch den Alten verloren.
Und er hat sein Bein durch den Alten verloren.
Als Strafe.
Als Strafe für die Fragen und das Sprechen mit ihm.
Und er selbst ist der Nächste.
Der Alte kam immer näher.
Vor dem Fenster winkte der andere hektisch.
Der Alte hob langsam sein Messer, wieder blitzte es im Mondlicht auf.
Der andere öffnete das Fenster noch ein Stück weiter.
Der Alte stand nun direkt neben dem Bett.
Vor dem Fenster fuchtelte der andere Junge wild mit den Armen und winkte den Einarmigen zu sich, doch der Junge lag wie gelähmt in seinem Bett und konnte sich nicht bewegen.
Erst im letzten Moment, bevor das Messer auf ihn herabfiel, sprang dieser auf.
Das Messer traf das Kissen dort, wo vor einem Wimpernschlag zuvor noch sein Kopf gelegen hatte.
Die Federn wirbelten auf, der Alte hustete und wedelte mit den Händen vor seinem Gesicht, doch die Federwolke versperrte ihm die Sicht.
Diesen Moment nutzte der Junge, sprang aus dem Fenster und rannte um sein Leben, der andere hinterher.
Die beiden Jungen rannten so lange und so weit, wie sie ihre Beine trugen.
Als sie wussten, dass ihnen keiner mehr folgte, machten sie Rast. Der andere Junge zog aus seiner Tasche einen Arm. Und so wurde aus dem einarmigen Jungen ein zweiarmiger Junge.
Gemeinsam zogen sie durch die Welt und verdienten sich ihr Geld als Puppenmacher.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Justine Heute (Q3). Textbeitrag zum Kulturabend 2019