Ein Text zum Thema “Heimat” von Elisa Biener
Nun fahre ich die Straße entlang, die zu etwas für mich ganz Besonderem führt. Ich biege ab und fahre in die Weinberge hinauf, von denen ich runter zur Stadt – die bis vor zwei Jahren mein Zuhause war – blicken kann und mache den Motor aus. Danach steige ich aus und mache mich auf den Weg zu meiner Lieblingsbank, auf der ich früher gemütliche Abende mit für mich wichtigen Personen verbracht habe und dabei die Aussicht genossen habe. Ich setze mich hin, um nachzudenken und lasse die Eindrücke auf mich wirken. Mein Blick schweift über die Wiesen und weitläufigen Wälder, die die Stadt umgeben, bis er an der Stadt selbst hängen bleibt, um sich diese genauer zu betrachten. Ich blicke zu meiner ehemaligen Schule und lasse mich an die meist schöne Schulzeit erinnern. Dann sehe ich in der Stadtmitte den Park, in dem ich mich oft mit Freunden traf und lustige Verabredungen hatte. Es ploppen weitere Erinnerungen vor meinem inneren Auge auf, die ich da erlebt hatte, als ich dort gewohnt hatte. Meine Vergangenheit wird lebendig, weshalb ich in ein wohliges Gefühl verfalle. Es scheint, als hätte sich dort nichts geändert, als ich weg war. Alles sieht aus wie früher. Plötzlich schießen mir Tränen in die Augen bei dem Gedanken, wie diese schöne Zeit geendet hat und was darauf folgte …
Ich lebte in meiner Heimatstadt ein glückliches Leben, bis ich im Alter von 18 Jahren jemanden kennenlernte, der mein Leben von Grund auf veränderte. Mit der Person ging ich fort – weit weg – und sah eine Zukunft, die mir viel versprach. Studieren wollte ich und mit der besagten Person eine gemeinsame Zukunft haben. Doch alles wurde anders, schlimmer. Es war ein schleichender Prozess, der meine Seele langsam auffraß. In meinem Kopf war immer die Hoffnung auf das Leben, was ich mir zuvor erträumte, weshalb ich den Schmerz, den mir diese Person zufügte, ausblendete. Viel zu spät wachte ich aus diesem Wunschdenken auf und sah die Realität: meine Seele war zerstört und diese Zukunft würde es nicht geben. Ich musste also weg von diesem Menschen, dem ich einmal vertraut hatte. Da ich aber zu eingeschüchtert war, von dem was alles geschehen war, mochte ich nicht nochmal einen Neuanfang in der Ferne wagen, aus Angst, es würde wieder so schlimm werden. Deshalb beschloss ich, nach zwei Jahren in meine ursprüngliche Heimat zurückzukehren.
So befinde ich mich hier kurz vor der Stadt. Ich habe Angst davor, wie meine Familie und meine Freunde reagieren werden, wenn ich sie gleich überraschen werde. Werden sie froh sein, dass ich wieder da bin? Oder werden sie wütend sein, weil ich mich nicht mehr bei ihnen gemeldet habe und mich wieder wegschicken? Dazu muss ich sagen, dass es stimmt, dass ich den Kontakt abgebrochen habe. Es fühlte sich nicht richtig an, sie wissen zu lassen, dass es mir so schlecht ging, schließlich war ich doch das immer gutgelaunte Kind gewesen. Etwas anderes sollten sie nicht von mir denken.
Neben dieser Ungewissheit spüre ich noch etwas anderes, ein positives Gefühl. Zwar liegt die Schwere, die ich durch die schreckliche Erfahrung in den letzten beiden Jahren ständig spüre, immer noch auf mir, doch nehme sie nicht so intensiv wahr, weil meine Seele gerade von etwas anderem erfüllt wird, einzig und allein durch den Blick auf die Stadt, mit der ich unzählige schöne Erinnerungen verbinde. Diese Gefühle sind Zufriedenheit, Unbeschwertheit und viele andere positive Gefühle. Ich habe beinahe vergessen, wie gut sich das anfühlt. Es gibt mir Mut für den Antritt des neuen Lebensabschnitts. Denn ich verspreche mir, hier der glückliche Mensch zu werden, der ich früher einmal war. Jetzt wird alles besser! Ich mache mich auf den Weg zurück zum Auto und starte entschlossen den Motor und fahre in mein neues, noch ungewisses Leben.
1 Jahr später…
Tatsächlich wurde alles besser. Zuerst konnte ich das nicht fassen, denn die Hoffnung nach einer Besserung hatte ich längst aufgegeben. Meine Familie war von meiner Rückkehr überrascht gewesen und besorgt, weil ich mich nicht mehr bei ihnen gemeldet hatte. Doch nachdem ich mich ihnen öffnete und erzählte, was in den letzten beiden Jahren passiert war, brachten sie großes Verständnis für mich auf und taten alles, um mich aufzubauen. Auch meine Freunde brachten Verständnis auf und nahmen mich wieder in unseren alten Freundeskreis auf. Wir konnten gleichzeitig zusammen lachen, aber ich konnte mich auch an sie wenden, wenn es mir nicht gut ging und ich jemanden zum Reden brauchte.
Mit der Zeit ist das, was geschehen war, in den Hintergrund gerückt und ich denke kaum noch daran. Im Vordergrund steht das Hier und Jetzt und ich konzentriere mich auf das, was mir guttut und auf die Leute, die mich lieben. Das ist der Schlüssel zum Glück. Es bringt nichts, sich ständig über das, was passiert ist, den Kopf zu zerbrechen. Man sollte zwar über das, was einen beschäftigt, sprechen, aber irgendwann sollte man abschließen. Mittlerweile sehe ich mein Schicksal sogar positiv, denn es hat mich stark und erwachsen gemacht. Ich helfe nun auch in meinem Beruf anderen Menschen, besser mit ihren Problemen oder Schicksalsschlägen umzugehen.
Gerade gehe ich in den Weinbergen spazieren, von denen man die ganze Stadt überblicken kann. Auf einer Bank nehme ich Platz und genieße den Blick auf meine Heimat. Mir kommt jener Tag in den Sinn, an dem ich hierher zurückgekehrt war und ebenfalls auf dieser Bank saß. Damals hätte ich nicht gedacht, dass es mir schon ein Jahr später so gut gehen würde. Doch es ist so geschehen und das verdanke ich meiner tollen Familie und meinen Freunden, die mir bedingungslose Liebe schenken. Wenn ich so darüber nachdenke, wird mir bewusst, was eine gute Heimat ausmacht. Es sind nicht die schönen Berge, die Größe der Stadt, die tolle Wohnung oder die Einkaufsmöglichkeiten. In der schlimmsten Zeit meines Lebens wohnte ich in einer Stadt, in der sich viele Menschen erträumen zu leben, doch ich war dort unglücklich, weil ich einsam war und von der Person, mit der ich lebte, schlecht behandelt wurde. Was eine Heimat besonders und lebenswert macht, sind die Menschen, die dich lieben.
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