„Beerholms Vorstellung“. Ein Buchtitel, der auf den Inhalt des Romans von Daniel Kehlmann passt wie die Faust auf´s Auge: Ist es nun eine Vorstellung Beerholms, eine Vorstellung seines Lebens, seines wahren Lebens? Oder ist es eine Vorstellung, die aus seinem, Beerholms wahrem Leben resultiert? Eine halb ausgedachte, halb ausgeschmückte Darstellung, eine Show, eine Vorführung? Vielleicht handelt es sich aber auch um die Vorstellung, die Fiktion, um das ungeheure Phantasiegebilde eines jungen Mannes, einen Fiebertraum, ein Hirngespinst? Oder geht es um etwas ganz anderes? Was die Gesamtinterpretation betrifft, ist es so nur schwer möglich klar zu sagen, was Kehlmanns wahre Idee, seine Intention, die eigentliche Realitätsebene, hinter diesem magischen Roman nun wirklich ist: Denn eigentlich gibt es für fast jede Gesamtdeutung Belege, Zitate, Phrasen.
Vielleicht wollte Kehlmann gerade nicht, dass sich dieser Roman und seine Handlung so einfach, so leicht, zerlegen, analysieren, erfassen lässt. Genauso schwierig wie es für uns ist, eine klare Linie zwischen Realität und Unwirklichkeit, zwischen Klarheit, Wahrheit und Lüge zu ziehen, so scheint es auch in Kehlmanns Roman “die” klare Handlung, “die” eine Gesamtdeutung gar nicht zu geben.
Klar: Es lässt sich einerseits begründen, dass die gesamte Romanhandlung eine Phantasie ist, von dem Tod Ellas – Beerholms Adoptivmutter – bestimmt. Beerholm, der klar und deutlich statuiert, er hätte nie etwas getan, das nicht von diesem einen schreckensgedehnten Augenblick am Fenster, dem Tod seiner Adoptivmutter, bestimmt gewesen sei (vgl. S.60), möchte Theologe werden. Kurz darauf beginnen nicht nur erste Alpträume aufgrund der „Reifeprüfung“ (S. 61) und Beerholm fängt an stark zu phantasieren, nein, später scheint es so, als ob sich Beerholm seinen späteren Professor „Pater Fassbinder“, sowohl als auch das Kloster, „das Gebäude, das [seine] Phantasie in aller Eile errichtete [mit] Versatzstücken aus der École Internationale und dem Haus Beerholms“ (S. 63), auf das er zugeht, indem sich „in [ihm] der Schlaf ausbreitet[e]“ (S. 64), nur ausdenkt, im Traum. Man könnte meinen, dies sei der endgültige Wendepunkt, ab hier ist und bleibt die Romanhandlung eine Phantasie mit Anhaltspunkt, mit Sicherheit. Ein Manuskript, das Beerholm nur schreibt, um weiter am Leben zu hängen (vgl. S. 239), um zu „bleiben“ (S. 239). Ist es das was es ist, ist das die Wahrheit?
Oder erzählt uns der Erzähler nicht doch eine wahre Geschichte, seine Geschichte, als eine fantastisch, mystisch und magisch ausgeschmückte Zaubershow? Auch hierfür gibt es zahlreiche Anhaltspunkte: Nicht zuletzt als Beerholm aufgrund eines Autounfalls im Krankenhaus liegt und klar und deutlich ausdrückt, dass seine vorherige Schilderung der „schrecklichsten Nacht seines Lebens“ (S. 213), der brennende Dornenbusch, die Fensterscheibe, nicht nur die Wahrheit gewesen sei, denn „der Rest ist Ausschmückung, eine Mischung aus Wunsch und Alptraum. Der Versuch, mein Scheitern in eine Art dämonischen Glanz zu verkleiden“ (S. 214). Mit der nachfolgenden Frage „Du hast es geglaubt? […] Vielleicht bin ich doch ein Magier“ (S. 214) erhärtet sich der Verdacht einer ausgeschmückten Vorstellung nur noch weiter.
Ein Erzähler, der in der Höhe schwebt, fällt und immer nahe am Abgrund ist. Ein Erzähler dessen „Rückschau auf [sein] kurzes und verwirrtes Leben […] der Makel [seines] Berufes [noch anheftet]“ (S. 232). Er, so Beerholm, habe Effekte, Überblendungen, täuschende Lichtspiele eingefügt (vgl. S. 232), bei denen, dass „Gebot der Schweigsamkeit“ (S. 151) ihn binde, vielleicht, weil er als Täuschungskünstler tatsächlich Angst vor der Wahrheit hat, ihr entkommen will (vgl. S. 232). Vielleicht aber auch um leere Lücken seines Lebens von seiner Kindheit an zu füllen: Ellas Tod kann Beerholm sich nicht erklären, ist es „Schicksal, Irrsinn [oder] Statistik“ (S.15), ist es Bestimmung oder Zufall? Kurz darauf kommt mit den Gutenachtgeschichten Beerholms Merlin, der große Zauberer und seine geliebte Nimue in Beerholms Leben (vgl. S. 17f.). Ein Erklärungsversuch: Zauberei, Magie? Im weiteren Verlauf des Romans erschafft, schöpft Beerholm sich seine eigene Nimue und die Arthussage nimmt für ihn an Bedeutung zu (vgl. S. 155ff.). Ist das Zufall? Oder ist Nimue eine weibliche Ersatzperson für Nähe, Festigkeit, Stand im Leben, die Beerholm früher nur von seiner Adoptivmutter erfahren hat?
„Beerholms Vorstellung“ ist ein dunkler Wald und wir als Leser versuchen einen Weg zu finden, um ihn zu durchkämmen, zu durchdringen. Irgendetwas ist in uns Menschen, das uns immer nach der Realität suchen lassen will, nach dem roten Faden, dem Boden der Tatsachen. Einfach gesagt: Wir suchen nach Halt, nach Halt in einem Roman in dem es keinen Halt gibt.
Beerholm selbst sagt, und man könnte es nicht besser in Worte fassen: „Ich habe die Grenze zwischen Traum- und Alptraumreich, meiner Phantasie und der Wirklichkeit, der sogenannten, immer bemerkenswert durchlässig gefunden. Ich bin nicht imstande, Unterscheidungen zu machen, wo ich keine Unterschiede sehe oder nur höchst unverlässliche“ (S. 193).
Zu „Beerholms Vorstellung“ gibt es eben nicht die eine Gesamtdeutung, nein alle möglichen Gesamtdeutungen sind verknüpft, denn sonst würde auch der Roman nicht existieren. Im Laufe des Romans zeigt sich: Wirklichkeit und Fiktion gehen ineinander über, die Grenzen werden durchlässig, wirr. Nicht weiß und schwarz sondern grau. „Beerholms Vorstellung“ ist ein Roman, in dem Kehlmann die Frage nach der Fiktion und der Wirklichkeit aufwirft, die er selbst nicht beantworten kann. Niemals können wird, wie keiner von uns. Was ist wahr, was nicht, was ist richtig, was falsch. Sobald man also meint, eine richtige, passende, stimmige Gesamtdeutung gefunden zu haben, sobald man meint im Recht zu sein, richtig zu liegen, behauptet man gleichzeitig die Wahrheit, die Wirklichkeit durchblickt und die Lüge entlarvt zu haben. Und das ist laut Daniel Kehlmanns Roman nicht möglich.
Eine Romanrezension von Julia Sauerwein
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