Für meinen Jahrgang ist der große Moment gekommen. Der Ernst des Lebens hat uns eingeholt und versteckt sich hinter dem Namen „schriftliches Abitur“. Obwohl wir seit acht Jahren darauf vorbereitet worden sind, klopfte dieses Schreckgespenst viel zu früh an unsere Türen. Dies soll jedoch nicht noch einmal geschehen. Seit einem halben Jahr beginnt die Panik langsam in die Köpfe der Schüler und Schülerinnen der jetzigen Q4 zu kriechen. Jeder Lehrer begann den Unterricht in der Q4 mit der Ankündigung, dass dies nun unser letztes Jahr sei. Und die Mathelehrer glänzten mit der Folter, in jeder Stunde die übrigen Unterrichtsstunden bis zum gefürchteten schriftlichen Abitur herunterzuzählen. Der Stress, der auf den Schultern der Abiturienten lastet, wird dadurch nicht minimiert.
Alleine schon der Ausdruck „Abiturient“ ist verpönter als jedes Schimpfwort, denn es macht die Nähe des Abiturs nur noch deutlicher. Und eigentlich will jeder von uns nur vergessen, dass so etwas wie Abitur überhaupt existiert.
Aber zwischen Lerntreffen am Wochenende, lernenden Mitschülern (die im Unterricht nach Dingen fragen, von denen man selbst noch nie auch nur im Geringsten etwas gehört hat, und die überhaupt schon viel weiter als man selbst beim Lernen sind und die man nie einholen wird und wie soll man überhaupt sein Abitur schaffen? Reicht nicht eigentlich schon ein Realschulabschluss oder ein Fachabitur? Was bringt das denn alles?) und Lehrern mit Countdowns lässt sich das Schreckgespenst Abitur sehr schwer vergessen.
Stattdessen sitzt jeder vor unzähligen Materialien, die nicht nur zusammengefasst, sondern auch gelernt werden müssen. Leute, die schon im Januar den gesamten Stoff zusammengefasst, werden behandelt wie das allerletzte Einhorn auf Erden und sind fast noch utopischer als ein solches mythisches Wesen. Hätte man selbst doch auch nur so früh angefangen wie die. Aber in Wirklichkeit bereut jeder einzelne nicht früher mit dem Lernen begonnen zu haben. Auch das allerletzte Einhorn.
Der Sinn davon, auf Lücke zu lernen, wird im Oberstufenraum kritischer diskutiert als jeder Bundeswehreinsatz im Bundestag, obwohl sich bei den dazugehörigen Lehrkräften bei diesen Gesprächen die Haare sträuben würden. Wochenlang lebt jeder Q4ler wie ein Eremit und hat nur noch einen Gedanken: Das Abitur.
Die liebevollen Plakate an den Zäunen rufen nur ins Gedächtnis, dass sich das Abitur auf lauten Sohlen immer näher anschleicht.
Je näher es kommt, desto irrationaler und rationaler werden die Abiturienten. Während die Gedanken und Gefühle irrational werden, werden die Pläne, wie viel Schlaf und wie viel Essen und welche Kleidung für den wichtigen Tag benötigt werden, immer logischer berechnet.
Bis es direkt hinter dir steht und mit heißen Atem in deinen Nacken atmet.
Denn dann ist der große Moment gekommen. Alle sind voller Anspannung. Jeder hat genug Nahrungsmittel dabei, um eine Expedition zum Nordpol zu überstehen. Die Raucher verdunkeln den Himmeln mit ihren nervös gerauchten Zigaretten. Irgendwie ist einem schlecht und man zweifelt an dem Gelernten. Flucht ist der einzige Gedanke. Immerhin hat man ja die ausreichende Lebensmittelversorgung dafür.
Und dann werden die Vorschläge ausgeteilt. Es wird unterschrieben und gelesen. Alles ist so formal und neuartig.
Bis dann die Realisation kommt: Das Abitur wirkt einfach nur wie jede andere Klausur. Der einzige Unterschied sind die Vorschläge, die Zeit und die Tatsache, dass die beaufsichtigende Person jeden Toilettengang minutiös dokumentiert. Eigentlich sollte es sich doch besonders anfühlen, oder? Irgendwie anders? Aber das stimmt nicht. Der Ernst des Lebens ist gar nicht mal so ernst.
Und doch verschwindet mit der letzten schriftlichen Prüfungen ein riesiger Haufen vom Abi-Abi-Abi-Stress.
Bis die mündlichen Prüfungen kommen.
Ein Beitrag von Marika
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